September mahnt er Präsident Beneš drängend, die deutschen Forderungen anzunehmen. Er fügt hinzu, daß die Tschechoslowakei selbst nach einem gewonnenen Krieg nicht so wiederhergestellt werde, wie sie vorher war139. Mit anderen Worten, selbst nach einem gewonnenen Krieg muß die Tschechoslowakei mit dem Verlust der Sudetenlande und vielleicht noch anderer Landesteile rechnen.
Die Münchener Konferenz vom 29. und 30. September 1938
Am Tag danach, am 28. September, teilt Chamberlain dann Hitler mit, er habe beim Lesen seines Briefes den Eindruck gewonnen, die deutschen Wünsche könnten auch ohne Krieg befriedigt werden. Er sei bereit, nach Berlin zu kommen und die anstehenden Probleme mit ihm und einer französischen und einer italienischen Delegation zu besprechen140. Hitler reagiert zunächst nicht auf dies Angebot. Am gleichen Tag, dem Ablauftag des Ultimatums, schickt auch US-Präsident Roosevelt ein Telegramm an Hitler und schlägt eine Konferenz aller interessierten Staaten zur Lösung der Probleme vor. Parallel dazu bittet Roosevelt den italienischen Staatschef Mussolini, Hitler umzustimmen und in der Sudetenfrage zu vermitteln. Die gleiche Bitte geht auch noch von Chamberlain an Mussolini. Auch der französische Ministerpräsident Daladier versucht, die Krise ohne Krieg zu lösen. Er läßt Hitler einen in Frankreich ausgearbeiteten Abtretungsplan für die Sudetenlande übermitteln141, der zwar die hitlerschen Forderungen erfüllt, der allerdings nicht mit den Tschechen abgesprochen ist. Hitler geht auch auf diesen Plan nicht ein.
Nun greift Mussolini ein. Es hebt sein Prestige, daß die USA und England ihn um Vermittlung bitten, und er sieht die Chance, sich dabei den Dank der Deutschen, der Polen und der Ungarn zu Lasten der Tschechen, Slowaken und Ruthenen zu verdienen. Mussolini bietet Hitler die Vermittlung in der Sudetenkrise an, und der „Führer“, der im „Duce“ seinen Partner sieht, nimmt ohne Zögern an.
Hitler lädt die Staats- und Regierungschefs aus Rom, Paris und London für den Folgetag nach München ein. Die Prager Regierung wird aus London informiert, 138 Brief vom 27. September 1938, siehe Henderson, Seite 161
139 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume II, Document 1138
140 Henderson, Seite 163
141 François-Poncet, Seite 378
161
doch nicht von Hitler eingeladen. Der „Führer“ will mit der Regierung, die den Sudetendeutschen keine Freiheit geben wollte, nicht verhandeln.
Abb. 5: Die Teilnehmer der Konferenz
Von links: der brit. Premiermin. Chamberlain, der franz. Min.Präs. Daladier, Adolf Hitler, der ital. Staatschef Mussolini und sein Außenmin. Graf Ciano.lm Hintergrund: Chefdolmetscher Dr. Schmidt, der franz. Außenmin. Bonnet, Reichsaußenmin. v. Ribbentrop, Staatssekretär v. Weizsäcker, der Generalsekretär des franz. Außenministeriums Léger.
Die Konferenz Mussolinis, Daladiers, Chamberlains und Hitlers beginnt mit einer Darstellung der nationalen Standpunkte der vier Länder. Mussolini übernimmt dabei die Moderation. Er spricht als einziger alle Muttersprachen der hier versammelten vier Herren. Der englische Premier Chamberlain verlangt zweimal im Laufe der Gespräche, auch tschechische Vertreter zu den Verhandlungen zuzulassen, doch Hitler wehrt das ab. Die gleiche Ungerechtigkeit wie in Versailles. Nach einigem kontroversen Hin und Her legt Mussolini einen Kompromißvorschlag vor, der – was weder Briten noch Franzosen wissen – am Tag zuvor von Göring, Neurath und Weizsäcker142 aufgesetzt, dann von Hitler genehmigt und Mussolini zugeleitet worden ist.
142 Göring ist Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, von Neurath gewesener Außenminister und von Weizsäcker Staatssekretär im Außenministerium 162
Die drei genannten Herren, alle Vertreter einer Friedenslösung, fuhren damit nicht nur Daladier und Chamberlain hinters Licht. Sie bremsen – da ist ihre vor-dringliche Absicht – im eigenen Lager Außenminister von Ribbentrop aus, der einer Sudetenlösung mit Gewalt offensichtlich gern den Vorzug gäbe. Es folgen Stunden harten Ringens. Doch um Mitternacht ist Mussolinis „deutscher“ Vorschlag im wesentlichen angenommen. Am 30. September 1938 morgens um 1.30 Uhr ist der Vertrag unterschrieben. Die wesentlichen Punkte dieses nach dem Tagungsort benannten Münchener Abkommens lauten:
● Die Räumung der vorwiegend deutsch bewohnten Sudetengebiete beginnt am 1. Oktober und ist bis zum 10. Oktober 1938 abzuschließen.
● Ein internationaler Ausschuß unter tschechischer Beteiligung bestimmt zu-sätzliche Gebiete, in denen die spätere Zugehörigkeit durch eine Volksabstimmung geklärt wird.
● Ein Optionsrecht für Tschechen und Sudetendeutsche innerhalb von sechs Monaten stellt einen freiwilligen Bevölkerungsaustausch sicher. Tschechen aus den Sudetengebieten können nach eigener Entscheidung in die Tschechoslowakei übersiedeln und Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei in die Sudetengebiete.