Hitler entschließt sich, Chamberlain dieses Mal auf halbem Weg entgegenzukommen. So ist der Ort des zweiten Treffens am 22. September Bad Godesberg bei Bonn am Rhein. Ministerpräsident Chamberlain berichtet Hitler von der nur mit Druck und Mühen erreichten Annahme des englisch-französischen Plans durch die Regierung der Tschechoslowakei. Er rechnet nun mit Hitlers Dank, doch der schiebt zu seiner Bestürzung zwei neue Forderungen nach. Die erste ist die nach gleichen Regelungen für die ungarische und die polnische Minderheit.
Damit nimmt Hitler die Forderungen der italienischen, der polnischen und der ungarischen Regierung auf, die diese seit dem ersten Hitler-Chamberlain-Gespräch erhoben haben. Zum zweiten verlangt Hitler die sofortige Besetzung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Zonen durch die Wehrmacht innerhalb von nur vier Tagen und dementsprechend den Abzug von Polizei und Militär der Tschechoslowakei von dort.
Woher kommt Hitlers Eile so kurz vor dem Erfolg, der ihm doch offensichtlich jetzt so gut wie sicher ist? Hitler ist Dank des deutschen Abhördienstes127 inzwischen über Entwicklungen informiert, die selbst Chamberlain nicht kennt. Zum einen hat der französische Minister Mandel Präsident Benes in dem schon er-wähnten Telefonat aufgefordert, den Deutschen Widerstand zu leisten. Mandel hatte dabei „die Kanonen Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion“ als Köder ausgelegt. Zum anderen hat die Prager Regierung auf Telefon-leitungen, die durch das Reich verlaufen, offen mit den tschechischen Botschaftern in Paris und London darüber gesprochen, daß nun Zeit gewonnen werden muß, bis die Opposition in Frankreich und in England Daladier und Chamberlain stürzt und durch neue, kriegsbereite Regierungschefs ersetzt128.
Hitler hat Kenntnis von der Kabinettskrise in Paris und ist sich der Gefahr bewußt, daß schon in Kürze statt des „Friedenspremierministers“ Daladier ein neuer Premier aus dem Nest der Falken einen Konfrontationskurs gegen Deutschland fahren könnte. So hat es Hitler plötzlich eilig.
Die Konferenz von Godesberg droht, an Hitlers Nachforderungen schnell zu scheitern. Daß die Sorge des deutschen Kanzlers nicht ganz unberechtigt ist, erweist sich, noch während er mit Chamberlain verhandelt. Am Abend des ersten Konferenztages wechselt im Hradschin die Regierung. Am zweiten Konferenztag um 22.30 Uhr verkündet die neue Regierung der Tschechoslowakei die Allgemeine Mobilmachung und ruft damit 1,3 Millionen Soldaten zu den Waffen.
Offensichtlich befolgt sie damit den Rat Minister Mandels und hofft – wie der Franzose Mandel das bei seinem Ratschlag sagte –, daß nun die Kanonen Frankreichs, Großbritanniens und Sowjetrußlands wie von selbst zu schießen beginnen. Chamberlain versucht, Hitler diese Mobilmachung als Defensivmaßnahme 127 Der zentrale deutsche Abhördienst ist das sogenannte Forschungsamt im Reichsluftfahrtministerium 128 François-Poncet, Seite 375
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zu erklären, doch auch der Naivste muß jetzt merken, daß die Tschechen den französisch-englischen Plan nun nicht mehr akzeptieren.
Hitler sichert Chamberlain zu, daß die Wehrmacht solange nicht marschiert, wie deutsch-englische Verhandlungen laufen. Und er mäßigt seine Forderung nach Übergabe der Sudetengebiete in vier Tagen und verschiebt sie um weitere fünf Tage auf den 1. Oktober 1938.
Benešs „Sowjet-Plan“
Nach der Mobilmachung in der Tschechoslowakei rechnet jedermann mit Krieg.
In Frankreich werden noch in gleicher Nacht 600.000 Reservisten einberufen129.
Italien zieht 300.000 Soldaten ein und läßt Truppen an der Grenze zu Frankreich aufmarschieren. Belgien macht mobil. England bringt die Flotte auf Kriegsstär-ke130. Die Sowjetunion hatte schon drei Monate zuvor begonnen, 330.000 Reservisten einzuziehen und sechs Armeegruppen in Weißrußland und in der Ukraine in Richtung Westen zu verlegen131. Auch Ungarn und Polen hatten bereits vor der Tschechoslowakei mobilgemacht.
Beneš entwickelt inzwischen einen neuen Plan, die Zerteilung der Tschechoslowakei in letzter Stunde abzuwenden. Schon am 19. September hatte er in Moskau fragen lassen, wie sich die Sowjetunion im Falle eines deutschen Angriffs gegen die Tschechoslowakei verhalten werde. Nach einer ersten ausweichenden Antwort aus Moskau und einer weiteren Anfrage aus Prag erhält Beneš das erwünschte Hilfsversprechen. Doch die Sowjets können sich weder mit den Rumänen noch den Polen auf die Erlaubnis zum Durchmarsch ihrer Truppen durch eins der beiden Länder einig werden. König Carol II. von Rumänien kommentiert den Wunsch aus Moskau mit den Worten: