Sie griff nach Pendergasts Visitenkarte und wählte seine Handynummer. Dann hielt sie inne und legte das Telefon aus der Hand. Sie sollte nicht vorschnell handeln. Schließlich waren diese potenziellen Hinweise faszinierend, aber sie waren auch bloß das: potenzielle Hinweise. Wenn sie auf eigene Faust handelte, sollte sie zumindest so vorgehen, wie Pendergast es tun würde: sich beide Akten genau ansehen, alles bis aufs i-Tüpfelchen genau überprüfen. Schließlich würde die Polizei in Miami, der es oblag, derartige Dinge zu untersuchen, wissen wollen, wonach sie suchen musste.
Aber wäre es nicht wundervoll, dachte sie, wenn sie Pendergast die Identität von Brokenhearts auf dem Silbertablett servieren könnte … einfach so?
Sie legte die Winters-Akte beiseite und wandte sich der Fächermappe mit der Aufschrift JASMINE ORIOL zu.
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Ich nehme an, die Chancen stehen gar nicht schlecht, dass wir hier draußen erschossen werden«, sagte Coldmoon mit freudlosem Lächeln, als sie an einem schrabbeligen Trailer mit fünf ausgeschlachteten Pkws davor vorbeifuhren, der von schlaffen Palmettopalmen umgeben war. »Diese Typen würden sich die Gelegenheit, einen Shelby zu klauen, wohl kaum entgehen lassen.«
»Kann schon sein«, sagte Pendergast. Er hatte noch einmal die Vance-Akte durchgeblättert und steckte sie jetzt in die Tasche in der Beifahrertür. »Aber wenn es Sie beruhigt, würde ich wetten, dass Sie die locker abhängen.«
Als sie sich einer scharfen Kurve näherten, schaltete Coldmoon das konfiszierte Drogenmobil einen Gang herunter. Hinter den getönten Scheiben huschte die Landschaft vorbei – Bestände hohen Marschgrases, Gruppen dichter Vegetation und Bäume, hin und wieder ein Trailer oder eine aufgegebene Attraktion am Straßenrand. Und immer, überall verlaufend, Kanäle mit träge fließendem braunen Wasser, darin gelegentlich ein Alligator, der sich sonnte.
Die erste halbe Stunde hatten sie sich wie üblich durch den stockenden Verkehr in Miami gequält. Aber je weiter sie nach Westen kamen, vorbei an den Pferderennbahnen und Par-drei-Golfplätzen und Trailerparks, umso mehr setzte Coldmoon alles daran, sich zu entspannen, zu vergessen, dass
Der erste Abschnitt der Straße war ihm ohnehin vertraut, wegen seiner Fahrt nach Cape Coral. Und wie ihn dieser kleine Ausflug lehrte, war der Staat Florida von einer bizarren räumlichen Anordnung: Millionen von Menschen drängte es an die Küste wie Ameisen, und in der Mitte nichts als Seen, Orangenhaine, Viehranches und natürlich Sümpfe.
Nachdem sie die Kurve durchfahren hatten, verlief die Okeechobee Road pfeilgerade durch die flache Landschaft. Der Asphalt flirrte in der Hitze, Luftspiegelungen entstanden und verschwanden auf dem Straßenbelag. Sie gelangten in einen Abschnitt mit Feuchtgebieten, mit hoch aufragenden Bäumen, knollenförmigen Wurzelsystemen, die ins Wasser reichten wie Schlangenknäuel. Sie fuhren an einer großen Familie von in der Sonne badenden Alligatoren vorbei, die entlang des Ufers im Schlamm lagen, schwarz und ölig und in der Sonne glänzend. Einige lagen sogar übereinander. Machten die eigentlich nie die Augen zu? Coldmoon schauderte es. Gott, wie er den Anblick dieser Viecher hasste – und plötzlich schienen sie überall zu sein, was ungefähr mit der jähen Abnahme der menschlichen Bevölkerung korrespondierte. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass es derart viele Alligatoren in Florida gab. Sie waren wie riesengroße Schlangen mit Beinen. Wieso war Alligatorenleder eigentlich so teuer, wenn man nur in die Bayous von Südflorida fahren musste und so viele abknallen konnte, wie man wollte?
»Unser Abzweig sollte in etwa sieben Kilometern kommen«, sagte Pendergast.
Coldmoon checkte sein iPhone. Zum Glück zeigte es noch zwei Balken – das letzte Mal, als sie raus aus der Stadt gefahren waren, hatte er fast sofort keinen Funkempfang mehr gehabt. »Sieben komma eins Kilometer, um genau zu sein«, fuhr Pendergast fort. »Dann noch sechzehn bis Paradise Landing und von dort viereinhalb weiter nach Canepatch.«
»Na toll.« Coldmoon, der die Vernehmung unbedingt schnell hinter sich haben wollte, beschleunigte den Wagen erneut, diesmal auf hundertvierzig Stundenkilometer. Der tiefer gelegte Mustang schien die hohen Geschwindigkeiten mehr zu mögen: Der Motor wurde leise, gab nur noch ein leises Brummen von sich, wobei der Wagen aufgrund der Laminarströmung sicher und fest auf der Straße lag. Den deutlichsten Hinweis darauf, wie schnell sie unterwegs waren, lieferten die Insekten, die inzwischen wie Hagel auf die Windschutzscheibe prallten, wobei besonders große Exemplare von Zeit zu Zeit einen hässlichen gelben Fleck hinterließen.