Der Abzweig kam schneller, als sie gedacht hatten. Man sah kein Straßenschild, aber es war der einzige weit und breit. Coldmoon bremste sanft und fest und steuerte den Shelby auf die Nebenstraße. Diese war zunächst asphaltiert und hatte reichlich Schlaglöcher, aber nach ein paar Kilometern verwandelte sie sich in eine schmale Straße mit einem Belag aus zerdrückten Austernschalen. Die Trailer und ausgeschlachteten, verrosteten Motoren, die sie zuvor gesehen hatten, waren verschwunden. Stattdessen fuhren sie jetzt an kleinen Seen mit Brackwasser, an Sägegrasmarschen und hohen, merkwürdig aussehenden Pflanzen vorbei.
»Sind das hier die Everglades?«, fragte Coldmoon.
»Ich denke, wir befinden uns in dem Nationalpark, seit wir vom Highway abgebogen sind.«
Er blickte sich um. »Unfassbar, wie weit man hier fahren müsste, um sich ein Bier zu besorgen.«
»Noch weiter, würde ich meinen, für einen anständigen Bordeaux.«
Coldmoon war ja leere Weite gewohnt, aber das war die Weite der Prärie in South Dakota. Diese Art von Trostlosigkeit fühlte sich dagegen merkwürdig klaustrophobisch an, als würde man eingeklemmt von den tropischen Gewächsen, die mit jeder Meile dichter wurden. »Wer hat denn Lust, hier draußen zu leben?«, sagte er halblaut.
»Wir haben es mit einem Mann zu tun«, sagte Pendergast, »der sich sicher war, dass seine Frau brutal ermordet wurde. Zu Recht oder Unrecht war er davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelte, aber er konnte niemanden von seiner Meinung überzeugen, vor allem nicht die Strafverfolgungsbehörden. Er wurde abgelehnt, ignoriert, belächelt, als sei er verrückt. Eine solche Erfahrung kann einen Menschen brechen. Es ist deshalb keine Überraschung, dass er sich entschlossen hat, sich von den Menschen zurückzuziehen.«
»Okay«, sagte Coldmoon. »Aber das war vor zwölf Jahren. Glauben Sie, dass Vance immer noch hier wohnt – oder überhaupt noch am Leben ist?«
»Vor zwei Jahren war er es noch. Wir werden das noch früh genug herausfinden.«
»Jaja. Aber haben Sie den Film
»Nein.«
»Na, ich sage nur eins: Wenn ich anfange, Banjos zu hören, kehre ich auf der Stelle um.«
Hinter ihnen wirbelte der Wagen eine weiße Staubfahne auf. Als der Straßenzustand sich verschlechterte, drosselte Coldmoon die Geschwindigkeit. Die üppige Vegetation wich riesigen, hohen Gräsern, so hoch, dass Coldmoon das Gefühl hatte, sie würden in einen grünen Graben fahren. Anderthalb Kilometer weiter ragte ein dunkler Sumpfzypressenwald vor ihnen auf. Er schien endlos zu sein, wurde dunkler und dunkler, bis sie sich in einem düsteren Sumpfgebiet wiederfanden, wobei die erhöhte Sandpiste zwischen den mächtigen Stämmen der Zypressen und einem dichten, struppigen Unterholz verlief. Hier und da, an den wenigen Stellen, wo die Sonne hinkam, war der schmierige Glanz von Alligatorenrücken zu sehen.
»Noch zwei Kilometer bis Paradise Landing«, sagte Coldmoon und schaute auf sein Handy. Statt zwei Balken wurde jetzt nur noch einer angezeigt. Nach ein paar weiteren Minuten war zwischen den Bäumen Sonnenlicht zu erkennen, dann beschrieb die Straße eine Kurve und führte an einem breiten Kanal entlang. Der Wald lichtete sich, zum Vorschein kam eine verbrannt-grüne Landschaft mit mehreren durchhängenden Anlegestegen, die ins Wasser ragten, einem Einkaufsladen mit heruntergelassenen Rollläden und zwei verrosteten Benzin-Zapfsäulen unter einem Vordach aus Metall. Hinter der Bootsanlage konnte Coldmoon parallele Fahrbahnen einer einstmals gepflasterten breiten Straße sehen, gesäumt von Straßenlaternen und Reihen halb errichteter Häuser, Betonhüllen, die aufgegeben worden waren, bevor der Bau fertig war. Am nahen Ende der breiten Straße lagen ein paar Kajaks aus verschossenem Fiberglas, wie übereinandergeworfen und von zweifelhafter Seetüchtigkeit. Auf einem abblätternden Schild stand:
WILLKOMMEN IN PARADISE LANDING.
Coldmoon brachte den Shelby zum Stehen, und sie stiegen aus. Er blickte sich wachsam nach Alligatoren um, aber wenn welche in der Nähe waren, dann waren sie in dem Kanal untergetaucht. Ein paar Reiher flogen von den Stegpfosten auf.
»Sieht aus wie eines dieser gescheiterten Entwicklungsgebiete in Florida, von denen man liest.« Coldmoon warf einen kurzen Blick auf sein Handy. »Wir befinden uns immer noch fünf Kilometer von Canepatch entfernt. Aber die Straße scheint hier zu enden.«
Pendergast sagte nichts, richtete den Blick nur nach vorn auf die braune Wasserstraße.
»Nach Ihnen, Kemosabe.«
Pendergast, der immer noch nicht antwortete, ging zur Bootsanlage hinunter. Coldmoon folgte ihm. Ein kleines Propellerboot aus Aluminium, bei Weitem nicht so alt wie die Umgebung, lag an einem der Anlegeplätze vertäut.
»Offensichtlich nutzt noch irgendjemand diesen Ort«, sagte Pendergast. Er beugte sich vor und sah sich das Boot genauer an. »Und der Schlüssel steckt. Wie praktisch.«
»Sie würden es stehlen«, sagte Coldmoon.