Cantucci verließ das Treppenhaus im ersten Stock und betrat, die Ecken absichernd, den Flur. Keiner da. Das eine Ende des Flurs führte durch eine offene Tür ins Wohnzimmer, das andere zu einer geschlossenen Badezimmertür.
Er warf einen kurzen Blick auf den Überwachungsmonitor im Flur und ging die Kameras im schnellen Suchlauf durch. Da war der Kerl! Im zweiten Stock, einen über ihm, er schlich über den Flur in Richtung Musikzimmer. Was machte er denn da? Cantucci hatte eigentlich geglaubt, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, nur: Der Eindringling bewegte sich sehr absichtsvoll, als ob er einen Plan hätte. Aber was für einen? Wollte er die Strad klauen?
Verdammt, das war’s. Das musste der Grund sein.
Sein wertvollster Besitz: die L’Amoroso-Stradivari-Geige aus dem Jahr 1696, einst im Besitz des Herzogs von Wellington. Dieses Musikinstrument und sein eigenes Überleben, das waren die beiden Gründe, warum Cantucci in seinem Brownstone ein derart ausgeklügeltes Sicherheitssystem hatte installieren lassen.
Er sah der Gestalt dabei zu, wie sie das Musikzimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Er drückte den Knopf für die Kamera in dem Zimmer und beobachtete, wie die Gestalt zum Tresor ging, in dem die Stradivari lag. Wie wollte er den denn aufbekommen? Das verdammte Ding war angeblich nicht zu knacken. Andererseits hatte der Mistkerl bereits eine hochmoderne Alarmanlage ausgeschaltet. Cantucci hütete sich, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, war auf alles gefasst. Offenkundig hatte der Eindringling die Schüsse gehört. Er musste wissen, dass Cantucci bewaffnet war, und nach ihm suchen. Aber was dachte er denn da? Das ergab doch alles null Sinn. Cantucci sah, wie der Typ vor dem Tresor stehen blieb, die Hand ausstreckte und auf der kleinen Tastatur irgendwelche Zahlen drückte. Die falschen Zahlen, ganz offensichtlich. Jetzt zog er eine kleine metallene Dose aus der Hosentasche – irgendein elektronisches Gerät – und befestigte sie an der Vorderseite des Tresors. Dann legte er Pfeil und Bogen auf den Boden.
Das war seine Chance. Cantucci wusste, wo sich der Mann befand und wo er zumindest in den kommenden Minuten sein würde, außerdem war ihm bekannt, dass der Kerl Pfeil und Bogen abgelegt hatte. Er würde sich mit dem kleinen metallenen Gerät und dem Tresor beschäftigen.
Leise stieg Cantucci die Treppe zum zweiten Stock hinauf, spähte um die Ecke und sah, dass die Tür zum Musikzimmer immer noch geschlossen war, der Eindringling also darin. Dann schlich er barfüßig über den mit Teppichboden ausgelegten Flur und blieb vor der geschlossenen Tür stehen. Er hätte die Tür aufstoßen und den Kerl abknallen können, lange bevor dieser seinen lachhaften Bogen aufheben und damit einen Pfeil auf ihn abschießen konnte.
Langsam und zielstrebig packte er mit der Linken den Türknauf, stieß die Tür auf und stürmte, die Waffe gezückt und auf den Tresor gerichtet, ins Zimmer.
Keiner da. Das Zimmer war leer.
Cantucci erschrak. Er erkannte sofort, dass er in eine Falle getappt war. Blitzartig drehte er sich um und schoss wie ein Irrer in den hinter ihm befindlichen Raum, noch während der Pfeil durch die Luft zischte, in seine Brust eindrang und ihn gegen die Wand schleuderte. Ein zweiter und dritter Pfeil, in schneller Folge abgeschossen, nagelten seinen Körper förmlich an der Wand fest – drei Pfeile, ein Dreiecksmuster bildend und das Herz durchstoßend.
Der Eindringling, der in der offenen Tür zum Zimmer auf der anderen Flurseite gestanden hatte, trat einen Schritt vor und blieb einen halben Meter vor dem Opfer stehen, das von den drei Pfeilen in der Senkrechten gehalten wurde. Der Kopf war nach vorn gesackt, die Arme hingen schlaff herunter. Der Mörder streckte die Hand aus und knipste das Licht im Flur an, stellte den Bogen an die Wand und musterte das Opfer langsam und mit Bedacht von oben bis unten. Dann packte er den baumelnden Kopf mit beiden Händen, hob ihn an und schaute in die starrenden, aber blicklosen Augen. Mit dem Daumen hob er die Oberlippe des Opfers an, drehte ein wenig den Kopf, untersuchte kurz die Zähne: weiß, gerade und ohne Plomben. Der Haarschnitt war teuer, die Gesichtshaut glatt und straff. Für einen Fünfundsechzigjährigen hatte sich Cantucci recht gut gehalten.
Der Eindringling ließ den Kopf los, sodass dieser wieder nach vorn sackte. Er war außerordentlich zufrieden.
6
Um 16 Uhr am folgenden Nachmittag saß Lieutenant Vincent D’Agosta im Videoraum B205 im Präsidium der New Yorker Polizei, nippte an einem Becher verbrannten, schlammigen, eiskalten Kaffees und sah sich eine verschwommene Aufzeichnung an, die eine Überwachungskamera aufgenommen hatte, die das Gewerbegebiet in Queens zeigte, in dem die Leiche gefunden worden war. Es war die letzte der drei lausigen Aufzeichnungen der Überwachungskameras, die er sich seit zwei Stunden anschaute, ohne Ergebnis. Er hätte einen Untergebenen damit beauftragen können, aber aus irgendeinem Grund hasste er es, seinen Leuten Pfadfinderaufgaben aufs Auge zu drücken.