Er hörte ein Klopfen an der offenen Tür. Als er sich umdrehte, erblickte er seinen hochgewachsenen, athletischen Vorgesetzten Captain Singleton. Singleton trug einen schmal geschnittenen blauen Anzug; mit seinen großen, abstehenden Ohren stand er als Silhouette im trüben Flurlicht. Er hielt zwei Dosen Bier in den Händen.
»Vinnie, wen versuchen Sie da eigentlich zu beeindrucken?«, fragte er und betrat das Zimmer.
D’Agosta stoppte das Video, setzte sich zurück und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.
Singleton nahm auf einem Stuhl in der Nähe Platz und stellte die Bierdosen vor D’Agosta ab. »Der Kaffee ist kriminell. Trinken Sie das hier stattdessen.«
D’Agosta nahm die eiskalte Dose in die Hand, riss die Lasche ab, was ein hübsches Zischen verursachte, und hob sie an. »Haben Sie vielen Dank, Captain.« Dankbar nahm er einen langen Schluck.
Singleton setzte sich und öffnete seine Bierdose. »Also, was haben Sie gefunden?«
»Was die Sicherheitsvideos angeht, nichts. Es gibt da einen größeren toten Winkel zwischen den drei Kameras, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Tat dort abgespielt hat.«
»Gibt es Bildmaterial aus dem Viertel?«
»Nicht viel. Ist überwiegend Wohngebiet – das nächstgelegene Geschäft befindet sich einen Häuserblock entfernt.«
Singleton nickte. »Irgendwas, das diesen Mord mit dem von gestern Nacht in Verbindung bringt? An diesem Mafiaanwalt, Cantucci?«
»Nur die Enthauptung, sonst nichts. Der Modus Operandi ist unterschiedlich. Unterschiedliche Waffen, unterschiedlicher Modus, wie der Täter sich Zutritt zum Tatort verschafft und diesen wieder verlassen hat. Keinerlei Verbindung zwischen den Opfern. Und im Fall Ozmian wurde der Kopf vierundzwanzig Stunden nachdem das Opfer getötet wurde, mitgenommen, wohingegen er bei Cantucci unmittelbar nachdem das Opfer verstarb, abgetrennt wurde.«
»Also glauben Sie, dass die beiden Morde nicht zusammenhängen?«
»Vermutlich nicht, aber zwei Enthauptungen so kurz hintereinander, das ist schon ein seltsamer Zufall. Ich schließe nichts aus.«
»Was ist mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras in Cantuccis Haus?«
»Nichts. Die Aufnahmen waren nicht nur gelöscht – die Festplatten wurden mitgenommen. Die Kameras außerhalb des Hauses und an beiden Ecken der Third Avenue wurden vorher deaktiviert. Der Typ, der Cantucci ermordet hat, war ein Profi.«
»Ein Profi, der Pfeil und Bogen benutzt.«
»Ja, genau. Könnte sich um einen Mafiamord handeln, der irgendeine Art Botschaft senden soll. Dieser Cantucci war ein echter Dreckskerl. Ein Mann, der als Staatsanwalt erst eine Familie zur Strecke gebracht und anschließend für eine rivalisierende Familie gearbeitet hat. Er ist dreckiger als die Mafiosi, die er verteidigt hat, doppelt so reich und dreimal so clever. Er hatte mehr als genug Feinde. Wir arbeiten daran.«
»Und diese Ozmian?«
»Ein wildes Mädchen. Wir haben ihr Zimmer in der Wohnung ihres Vaters von der Spurensicherung untersuchen lassen, nur eine Vorsichtsmaßnahme – hat allerdings nichts Nützliches erbracht. Außerdem sehen wir uns ihre lebenslustigen Freunde an, haben aber bisher keinerlei Spuren gefunden. Wir ermitteln noch.«
Singleton brummelte irgendetwas Unverständliches.
»Die Autopsie hat bestätigt, dass man ihr von hinten durchs Herz geschossen hat, sie so lange an einem unbekannten Ort aufbewahrt hat, bis sie ausblutete, und anschließend in die Werkstatt brachte, von wo der Kopf ungefähr vierundzwanzig Stunden später entfernt wurde. Wir haben jede Menge Haare, Fasern und Fingerabdrücke gefunden, die wir gründlich untersuchen, aber ich habe das Gefühl, dass uns nichts davon weiterhelfen wird.«
»Und der Vater?«
»Superintelligent. Rachsüchtig. Absolutes Arschloch. Ist wahnsinnig jähzornig, schreit und brüllt und schmeißt mit Sachen um sich, und dann wird er plötzlich ganz ruhig – beängstigend.« Nachdem Ozmian am gestrigen Nachmittag die Leiche der Tochter identifiziert hatte – anhand eines Leberflecks am linken Arm –, war er so still, dass es D’Agosta kalt den Rücken herunterlief. »Es würde mich nicht wundern, wenn er dort draußen seine Leute hat, die heimlich nach dem Mörder suchen. Ich hoffe sehr, dass wir den Kerl vorher schnappen. Wenn Ozmians Leute ihn finden, könnte der Täter, fürchte ich, verschwinden, und wir können den Fall niemals aufklären.«
»Trauert Ozmian denn nicht um seine Tochter?«
»Doch. Auf seine Weise. Wenn sein Privatleben seinem beruflichen Leben auch nur entfernt ähnelt, scheint seine Art zu trauern darin zu bestehen, den Täter zu finden, ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, dann aus seinem Gemächt eine Krawatte zu binden und ihn daran aufzuhängen.«
Singleton schrak zusammen, dann trank er wieder einen Schluck. »Ein Milliardär, der Selbstjustiz übt. Lieber Gott, rette uns.« Er sah D’Agosta kurz an. »Irgendwelche Verbindungen zu den Geschäftsinteressen des Vaters? Sie wissen schon, die Tochter ermorden, um sich am Vater zu rächen?«