Briannas Eltern hatten diese Briefe ja nicht als Tagebucheinträge geschrieben, die möglicherweise für die Augen einer wenig konkreten Nachwelt bestimmt waren. Sie waren ausdrücklich zum Zweck der Kommunikation verfasst worden – mit Brianna, mit
Dennoch erhob er sich, nahm den Brief vom Regal und las das Postskriptum noch einmal durch, nur, um sich zu vergewissern, dass er es sich nicht eingebildet hatte.
Es war nicht so. Mit dem leisen Echo des Wortes »Blut« in den Ohren setzte er sich wieder hin.
Er betrachtete diese Zeilen einen Moment, murmelte »aufgeblasener Esel«, riss die Seite aus dem Notizbuch und zerknüllte sie.
»Wer bin ich eigentlich, dass ich hier Moralpredigten halte?«, wollte er wissen. Sie blickte von einem Blatt auf, das eine in ihre Einzelteile zerlegte hydroelektrische Turbine zeigte, und ihre ausdruckslose Miene signalisierte ihm, dass ihr zwar bewusst war, dass man mit ihr redete, dass sie ihren Verstand aber noch nicht hinreichend vom Gegenstand ihrer Betrachtungen gelöst hatte, um zu begreifen, wer mit ihr sprach oder was er sagte. Da ihm dieses Phänomen vertraut war, wartete er geduldig, bis sich ihr Kopf von der Turbine gelöst und auf ihn konzentriert hatte.
»… Predigten …?«, sagte sie stirnrunzelnd. Sie kniff die Augen zu, dann wurde ihr Blick scharf. »Wem denn?«
»Na ja …« Plötzlich verlegen, hob er das vollgekritzelte Notizbuch hoch. »Den Kindern sozusagen.«
»Du musst deinen Kindern Moralpredigten halten«, erwiderte sie in aller Logik. »Du bist ihr Vater; es ist deine Aufgabe.«
»Oh«, sagte er, völlig aus dem Konzept gebracht. »Aber – ich habe doch selbst viele von den Dingen getan, die ich ihnen hier verbiete.«
Sie betrachtete ihn mit hochgezogener Augenbraue.
»Hast du noch nie von gut gemeinter Heuchelei gehört? Ich dachte, so etwas bringen sie euch in der Predigerschule bei. Wo du schon von Moralpredigten sprichst. Die Aufgabe eines Geistlichen ist es doch ebenfalls, oder?«
Ihre blauen Augen beobachteten ihn abwartend. Er holte sehr tief Luft. Brianna, so dachte er trocken, machte wirklich nicht viel Federlesens. Seit ihrer Rückkehr hatte sie weder seine knapp versäumte Ordination noch die Frage, was er jetzt in Bezug auf seine Berufung vorhatte, mit einem Wort erwähnt. Ein Jahr hatten sie in Amerika verbracht … Mandys Operation, der Entschluss, nach Schottland zu ziehen, die monatelange Renovierung, nachdem sie Lallybroch gekauft hatten – während all dieser Zeit nicht ein Wort –, bis er sich jetzt diese Blöße gab. Auf die sie sich natürlich schnurstracks gestürzt hatte, um ihn über den Haufen zu rennen und ihm den Fuß auf die Brust zu stellen.
»Ja«, sagte er ruhig. »Das ist es«, und erwiderte ihren Blick.
»Okay.« Sehr sanft lächelte sie ihn an. »Was ist dann das Problem?«
»Brianna«, sagte er und spürte, wie ihm das Herz in der vernarbten Kehle stecken blieb. »Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.«
Da stand sie auf und legte ihm die Hand auf den Arm, doch ehe einer von ihnen noch etwas sagen konnte, hüpften kleine nackte Füße durch den Flur, und Jems Stimme ertönte aus der Richtung Rogers Studierzimmer: »Papa?«
»Hier, Kumpel«, rief er zurück, doch Brianna war schon zur Tür unterwegs. Er folgte ihr und sah Jem in seinem blauen Superman-Schlafanzug mit nassen, zu Berge stehenden Haaren an seinem Schreibtisch stehen, wo er neugierig den Brief betrachtete.
»Was ist das?«, fragte er.
»Isdas?«, wiederholte Mandy treuherzig. Sie kam angesaust und kletterte auf den Stuhl, um etwas zu sehen.
»Es ist ein Brief von deinem Opa«, erwiderte Brianna, ohne zu stocken. Sie legte beiläufig eine Hand auf den Brief, sodass das Postskriptum zum Großteil verdeckt war, und zeigte mit der anderen auf den letzten Absatz. »Er schickt dir einen Kuss. Siehst du, da?«
Jems Gesicht begann zu strahlen.