Die Reparationen führen auch zu Zorn und Ärger bei den Siegern. Das Deutsche Reich muß nicht nur große Sachleistungen als Reparationen liefern. Es muß Gold und Devisen in einer Höhe zahlen, die das Reich nicht aufbringt. Da Deutschlands Volkswirtschaft durch die Gebietsabtretungen, durch den Verlust von 75 Prozent seiner Eisenerzvorkommen, durch die Abtrennung der Kohle-und Industriereviere in Oberschlesien und an der Saar und durch die Ablieferung von Maschinen, Lokomotiven, Kraftfahrzeugen und Handelsschiffen stark angeschlagen ist, lassen sich die für den Wiederaufbau nötigen Devisen nur im Außenhandel und durch Dumpingangebote auf dem Weltmarkt zusammenbrin-gen. Die deutschen Unternehmen müssen dazu die Betriebe in England und Frankreich unterbieten, was dort zu Verwerfungen und weiterem Zorn auf Deutschland führt. Des weiteren glaubt man im Ausland, daß die Deutschen ihre Wirtschaft mit Absicht in Unordnung halten, um ihre Zahlungsunfähigkeit zu beweisen.89
Die Höhe der Geldzahlungen wird erst 1921 festgelegt. Am 3. März fordern die Sieger auf einer Konferenz in London von Deutschland zunächst 269 Milliarden Goldmark in 42 Jahresraten, die jährlich bis 1963 zu entrichten sind. Die Forde-87 Wilsons-Dokumente, III. Band, Seite 42
88 z.B. in ODSUN-Dokumente, Seite 480
89 Taylor, Seite 62
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rung ist in einer Frist von nur vier Tagen anzunehmen. Doch diese immense Summe Geldes ist angesichts Währungsverfalls im Inland bereits 3 Billionen Papiermark wert und nicht mehr abzutragen. Die deutsche Reichsregierung be-antwortet das Londoner Ultimatum mit einem Gegenvorschlag, den die Sieger allerdings für völlig unzureichend halten. Sie besetzen daraufhin – trotz geschlossenen „Friedens“ von Versailles – am 8. März 1921 die Städte Duisburg, Düsseldorf und Ruhrort und drohen, die Hungerblockade von 1919 wieder aufzunehmen und auch das Ruhrgebiet mit Truppen zu besetzen. So muß die Reichsregierung akzeptieren. Inzwischen hat die Reparationskommission der Sieger den Gesamtumfang der Forderungen an Geld auf 132 Milliarden Goldmark plus 26 % der deutschen Ausfuhrerlöse neu festgelegt90. Zu alle dem kommen noch die nicht unerheblichen Unterhaltskosten für 140.000 Mann Besatzungstrup-pen91. England und die USA versuchen, die Ansprüche der Franzosen zu mäßigen, doch Frankreich hofft darauf, Deutschland, wenn es nicht mehr zahlen kann, links des Rheins auf Dauer besetzen zu können und unter eigener Hoheit zu behalten92. Ab Mai 1921 wirbt die Presse in Frankreich für den Gedanken, das Ruhrgebiet mit französischen Ingenieuren und Militär zu übernehmen93.
Nachdem die enormen Staatsausgaben für den Krieg den Wert des Geldes ohnehin sehr stark belastet hatten, zerstört nun der Abfluß der Devisen ohne wirtschaftlichen Gegenwert das deutsche Geld endgültig. Ab Januar 1923 herrscht Inflation in Deutschland. Das Land kann seine Reparationen in Geld nicht mehr bezahlen, auch die Steinkohlelieferungen nach Frankreich geraten in Verzug. Da ordnet Frankreichs Ministerpräsident Poincare an, ab dem 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet mit Truppen zu besetzen und die gesamte Bergbauförderung für Frankreich zu beschlagnahmen. Belgien nimmt mit Truppen an der Ruhrbesetzung teil.
Der Lieferverzug der Deutschen im Jahre 1922 umfaßt Holz und Kohle im Wert von 24 Millionen Goldmark. Die Lieferungen und Zahlungen, die im gleichen Jahr geleistet werden, belaufen sich jedoch auf 1.478 Milliarden Goldmark94. So ist der Grund, den die Franzosen als Vorwand für die „kalte Eroberung“ des Ruhrgebiets vorschieben, ein Fehl von nur 1,6 % der fälligen Jahresrate.
Die Reichsregierung ist empört, daß die Franzosen trotz des in Versailles geschlossenen Friedens mit Truppen in das Reichsgebiet marschieren. Sie ruft die Bevölkerung auf, „passiven Widerstand“ zu leisten. Die Gewerkschaften antworten mit Generalstreik und die Kumpel weigern sich in vielen Städten, den Franzosen ihre Zechen zu überlassen. In Essen erschießen französische Soldaten vierzehn Arbeiter, die versuchen, sich den Beschlagnahmen zu widersetzen.
Hunderte von deutschen Männern, die sich gegen die Franzosen stellen, werden 90 Gebhardt, Band 4/1, Seite 228
91 Kern, Seite 71
92 Taylor, Seite 39
93 Nitti, Seite 71
94 Gebhardt, Band 4/1, Seite 239
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nach Frankreich und in die Kolonien deportiert. 80.000 Deutsche werden ausgewiesen und müssen auf französischen Befehl das Ruhrgebiet verlassen95. In Deutschland steigt die Bitterkeit. In Frankreich nimmt die Empörung über die
„besiegten“ Deutschen zu, die den Versailler Vertrag erst unterschrieben und nun nicht eingehalten haben.