Das, was die Tschechen allerdings seit langem mit Nachdruck für sich fordern, ist ein autonomes Königreich Böhmen mit dem gleichen Status, den auch Ungarn innerhalb des Habsburg-Reiches innehat. Adolf Hitler, im alten Österreich aufgewachsen und von dort geprägt, sieht in den Tschechen deshalb offensichtlich nicht die selbständige Nation, die wir heute in ihr sehen. Die Tschechen selber erhalten sich jedoch trotz dieser Jahrhunderte langen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Integration ins Deutsche Reich die eigene Sprache und ih-re nationale Identität, die sie 1919 mit der Gründung der Tschechoslowakei als Staatsprache und Staatsbewußtsein durchsetzen und 1939 natürlich nicht verlieren wollen.
Der tschechische Bevölkerungsanteil Böhmens und Mährens hat sich einerseits bis 1918 zunehmend der deutschen Sprache in Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft bedient und politischen Einfluß im Parlament und bei Hof in Wien gewonnen. So ist zum Beispiel von 1916 bis 1917 der tschechische Graf Clam-Martinitz österreichischer Ministerpräsident. Andererseits fühlen sich auch viele Tschechen seit Jahrhunderten vom deutschen Habsburg unterdrückt. Die Erinnerung an den religiösen Kampf des katholischen Herrscherhauses Habsburg gegen die tschechischen Hussiten und Calvinisten im 15. und 17. Jahrhundert lebt im Identitätsempfinden der Tschechen als antideutsche Haltung bis in die Moderne fort. So empfinden sie die Ermordung ihres Reformators Jan Hus 1415
auf dem Konzil von Konstanz bis heute als schnöden Wortbruch und als Verbrechen der Deutschen an den Tschechen. Hus war unter Zusicherung der freien Rückkehr zum Konzil geladen und dort mit Zustimmung des böhmischen
Königs und deutschen Kaisers Sigismund als Ketzer verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Auch ein zweites religiöses Aufbegehren endet im Desaster. Der protestantische tschechische Adel erhebt sich 1618 gegen die vom deutschen Kaiser Ferdinand II. in Böhmen betriebene Gegenreformation. Der Aufstand endet 1620 mit einer Niederlage der Tschechen in der Schlacht am Weißen Berge nahe Prag. Der Adel verliert danach nicht nur seine Rechte sondern auch die Güter, die nun meist in deutsche Hände übergehen. Wie tief diese Niederlage in das historische Bewußtsein der Tschechen eingegangen ist, zeigt sich 1925, als die Regierung der Tschechoslowakei mit einer Bodenreform den Versuch macht, den Besitzstand der Tschechen von 1620 wiederherzustellen.
Die Slowaken sind geschichtlich einen anderen Weg gegangen. Die Slowakei ist seit 906 zunächst zwischen tschechischen, ungarischen und polnischen Herrschaftsansprüchen hin- und hergerissen, ehe sie im Jahre 1018 zusammen mit der 63 Ingrim, Seite 95
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Karpato-Ukraine Teil des ungarischen Königreiches wird. So stehen Slowaken und Ruthenen – obwohl verschiedene Völker – von 1018 bis 1919 gemeinsam unter der ungarischen Krone. Erst als Ungarn Teil des habsburgischen Weltreichs wird, kommen die Tschechen, Slowaken und Ruthenen unter diesem Dach in politische Berührung. Der Zusammenbruch des habsburgischen Weltreichs am Ende des Ersten Weltkriegs bietet Exiltschechen und Exilslowaken in den USA die Chance, von dort aus bei den Siegermächten in Saint-Germain ein eigenes Land für Tschechen und Slowaken einzufordern. Am 30. Mai 1918 schließen die Vertreter tschechischer und slowakischer Exilorganisationen in Pittsburg, USA, ein Abkommen, in Zukunft gemeinsam einen eigenen Staat zu gründen. Dabei sichern die Tschechen den Slowaken im Vertragstext zu:
In Hoffnung auf eine Gleichberechtigung im neu geschaffenen Staat der Tschechoslowakei binden sich die Slowaken für die nächsten 20 Jahre an die sprach-verwandten Tschechen.
Die Ruthenen, die sich selber Karpato-Ukrainer nennen, landen mit einer ähnlichen Vereinbarung, die Exiltschechen mit Exilruthenen in Cleveland USA ab-schließen, ebenfalls im Staat der Tschechen und Slowaken. Sie fühlen sich nach ihrem Volkstum als Teil des großen, auf die Sowjetunion, auf Polen und auf die Tschechoslowakei verteilten ukrainischen Volkes. Sie streben nach langer Fremdherrschaft eher in eine neue Gesamtukraine65 als zu den Tschechen und Slowaken. Ihr nicht verhehlter Wunsch nach einer Großukraine bringt ihnen Argwohn und Gegnerschaft in Warschau und in Moskau ein.
Die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat