1938 zählt die Tschechoslowakei neben 6,7 Millionen Tschechen auch 3,1 Millionen Deutsche, 2 Millionen Slowaken, 734tausend Ungarn, 460tausend Ruthenen (Ukrainer), 180tausend Juden, 75tausend Polen und 240tausend Menschen anderer Herkunft. Die Tschechen stellen damit im eigenen Staat nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung.
Die bunte Völkermischung ist in erster Linie das Ergebnis der Absicht der Weltkriegssiegermächte, das bis dahin mächtige Österreich-Ungarn in viele Staaten aufzuteilen. So werden hier Menschen und Territorien einem neuen Staate zugeschlagen, dessen Bevölkerung und Gebiete nie zuvor in der Geschichte eine Einheit, geschweige denn ein Staat gewesen sind. Der Status dieses neuen Staatsgebildes ist in den Verträgen von Saint-Germain, von Trianon und von Versailles 64 ODSUN-Dokumente, Seite 483
65 Die letzte selbständige Ukraine war 1667 zwischen Rußland und Polen aufgeteilt worden 133
Karte 10: Der Vielvölkerstaat Tschechoslowakei
festgeschrieben66. Die Verträge bestimmen, daß jede der genannten
Minderheiten ihre innere Autonomie in der neuen Tschechoslowakei erhalten soll. Von Seiten der Exiltschechen wird das auch so zugesagt. Der tschechische Delegierte Eduard Benes teilt den Siegermächten von Versailles diese Absicht als Versprechen in einer Note vom 20. Mai 1919 schriftlich mit:
Doch nur die Exil-Tschechen, -Slowaken und -Ruthenen haben zu dieser neuen Staatengründung einen Bund geschlossen68. Die anderen Volksgruppen landen ungefragt, durch das Diktat der Siegermächte und durch Gewaltanwendung in diesem neuen Staat.
Schon die Verfassung der neuen Tschechoslowakei von 1920 löst die Zusagen für eine Autonomie nicht für alle Minderheiten ein. Nur den Ruthenen wird mit Artikel 3 ein autonomes Gebiet, die Karpato-Ukraine, zugestanden. Die Verfassung sichert ihnen darin ein eigenes Landesparlament mit der Befugnis zu, Gesetze zu Fragen der Sprache, der Erziehung, der Religion und der örtlichen Verwaltung zu 66 Art 27 und 53 bis 58 des Vertrags von Saint-Germain, Art 27 und 48 bis 52 des Vertrags von Trianon und Art 27 und 81 bis 86 des Vertrags von Versailles
67 Wellems, Seite 127
68 Tschecho-Slowakische Emigrantenvereinbarung vom 30. Mai 1918 in Pittsburg (USA) und die Tschecho-Ruthenische Vereinbarung von Cleveland (USA)
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erlassen. Den Slowaken gegenüber erkennen die Tschechen ihr im Exil gegebenes Versprechen von Pittsburgh nicht mehr an und verweigern ihnen das eigene Landesparlament. Auch die Deutschen, die Ungarn und die Polen werden in dieser Hinsicht nicht bedacht. Sie stehen, wie die Slowaken, lediglich unter dem Schutz von Minderheitenartikeln in der Staatsverfassung:
Die Sudetendeutschen
Der Name der Sudetendeutschen leitet sich von ihrer Heimat, den Sudeten ab, wie die Gebirgszüge rund um Böhmen und Mähren bis 1945 heißen. Das Gebiet Böhmens und Mährens wird nach der Völkerwanderung, nach Abzug der ger-manischen Markomannen, von dem nachrückenden Volk der slawischen Tschechen übernommen. Ab 1204 rufen mehrere Generationen böhmischer Könige deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute zur Aufsiedlung und Entwick-lungshilfe in ihr Land, wodurch die Randgebiete Böhmens und Mährens und einige Sprachinseln im Landesinneren deutsch besiedelt werden und es über 700