Jahre bleiben. Die Sudetendeutschen sind dort, wie die Tschechen, während der letzten vier Jahrhunderte Angehörige des Habsburger Reichs. So ist es natürlich, daß sie sich nach der Zerschlagung Österreich-Ungarns zunächst Österreich zugehörig fühlen.
Mit dem Zerfall der Habsburg-Monarchie scheint das Schicksal der Sudetendeutschen für einen Atemzug lang ungewiß. Die Abgeordneten der Wahlkreise in den geschlossenen deutschen Siedlungsgebieten Böhmens, Nordmährens und Österreichisch-Schlesiens rufen am 29. Oktober 1918 die „Provinz Deutschböhmen“ aus und teilen der Wiener Nationalversammlung mit, daß die Provinz ein Teil Deutsch-Österreichs werden soll70. Am 21. November leiten sie der amerikanischen Regierung über schwedische Vermittler eine Note zu, in der sie das von Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für sich erbitten71.
69 Verfassung der Republik Tschechoslowakei vom 29. Februar 1920
70 ODSUN-Dokumente, Seite 494
71 ODSUN-Dokumente, Seite 502
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Karte 11: Die Sudetengebiete
Trotz dieser klaren Voten landen die Sudetendeutschen 1918 durch Gewaltanwendung und 1919 durch den Spruch der Siegermächte im Staat der Tschechen und Slowaken. Zuerst nutzen die Tschechen die Kapitulation des Habsburger und des deutschen Kaiserreichs und besetzen im November 1918 die deutsch besiedelten Gebiete Böhmens, Mährens und Österreichisch Schlesiens bis zu den Kämmen der Gebirge. Bis zum 18. November marschieren tschechische Legionäre in den deutschen Städte Aussig, Karlsbad, Troppau, Komotau und Eger ein, ohne daß die deutschen Bewohner dieser Orte das verhindern können. Am 4. März 1919 kommt es in den genannten Städten zu pro-österreichischen Demonstrationen, mit denen der Anspruch seinen Ausdruck findet, zu Österreich zu gehören. Doch tschechisches Militär schießt in die Demonstrantenmengen. 54
tote und ein paar hundert verletzte Sudetendeutsche kostet dieser Sieg der Tschechen über ihre neue Minderheit. Am 2. Juni 1919 geben die Siegermächte in Saint-Germain ihr Siegel unter diese Annexion der Tschechen. Sie überreichen Österreichs erstem Nachkriegskanzler Dr. Renner die „Friedensbedingungen“, mit denen die Sudetenlande der Tschechoslowakei zugeschlagen werden. Dr.
Renner läßt nichts unversucht. Am 15. Juni legt er mit einer Note in Saint-Germain Protest ein und beansprucht das von US-Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für die Sudetendeutschen. Er fordert eine Volksabstimmung zur zukünftigen territorialen Zugehörigkeit der umstrittenen Gebiete. Er beruft sich auch auf den Beschluß der freigewählten Abgeordneten Deutsch-Böhmens, daß ihre Wahlkreise Teil Deutsch-Österreichs werden wollen. Doch die USA und Frankreich entscheiden sich gegen die Stimme Englands auf der Konferenz von Saint-Germain zu Gunsten der Tschechen und zu 136
Lasten der Sudetendeutschen. Sie antworten Kanzler Renner- wie an früherer Stelle schon erwähnt -, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht für die Besiegten gelte und untersagen eine Volksabstimmung in den Gebieten, in denen die Menschen mit deutscher Muttersprache leben. Damit werden über drei Millionen Sudetendeutsche 1919 gegen ihren Willen Bürger der Tschechoslowakei. Die Werte Demokratie und Selbstbestimmungsrecht, um derentwillen England, Frankreich und die USA ihre Männer vor dem Siege hatten kämpfen lassen, haben ihre normative Kraft nach dem Sieg verloren.
Das Siegervotum von Saint-Germain ist vor allem das Ergebnis des Drängens der Exiltschechen bei den Siegermächten. Masaryk – später erster Staatspräsident der Tschechoslowakei – und der schon genannte Beneš – später zweiter Präsident –
haben gute Gründe, ihren neuen Staat mit Deutsch-Böhmen sowie den deutsch bewohnten Gebieten in Nord- und Südmähren abzurunden. Der erste Grund liegt vor allem „unter Tage“. In den Sudetengebieten gibt es bedeutende Eisen-, Kohle- und Ölvorkommen, Silber-, Blei-, Quecksilber- und Graphitlagerstätten, und darauf begründet eine ansehnliche Chemieindustrie, Eisen- und Glashütten sowie Gießereien. Erst durch die Annexion der deutschen Randgebiete Böhmens steigt die neue Tschechoslowakei vom Agrar- zum Industrieland auf. Vier Fünftel der Industrie des neuen Staates liegen in den Gebieten der Sudetendeutschen. Der zweite Grund liegt in der Topographie des Landes. Erst der Einschluß der deutsch bewohnten Ränder Böhmens bis zum Kamm des Böhmerwaldes und des Erzge-birges gibt dem neuen Land eine Außengrenze, die man im Kriegsfall leicht verteidigen kann72. So landen über drei Millionen deutschsprachige Bürger aus dem alten Habsburg durch den Anspruch der Tschechen und den Spruch der Sieger in einem Land, dem sie nicht angehören wollen, und das sie im übrigen auch selbst nicht haben will. Bodenschätze, Industrie und die Arrondierung des Gebiets sind das, was die Tschechen treibt, die Sudetenlande für ihren neuen Staat zu fordern.
Es sind nicht die Menschen, die dort wohnen. Seit der zweiten Hälfte des 19.