Jahrhunderts gibt es unter den Tschechen eine Strömung, die die Deutschen in Böhmen als „fremdnational“ empfindet und sich von ihnen trennen möchte. Diese abweisende Einstellung gegenüber den Sudetendeutschen wird um so stärker, je größer die Aussicht auf einen eigenen Staat wird. 1919 nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und vor Beginn der Siegerkonferenz in Saint-Germain wird das in der tschechischen Publizistik so auch offen diskutiert. So veröffentlicht zum Beispiel ein tschechischer Jurist namens Stihule 1919 eine Denkschrift mit dem Titel „Der tschechoslowakische Staat im internationalen Recht“, in der er die Stellung der Deutschböhmen in seinem neuen Staat wie folgt beurteilt:
„...
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Des weiteren schreibt Stihule über die Assimilation der Deutschböhmen und über die zukünftige Zerstückelung der deutschen Siedlungsgebiete innerhalb der neuen Grenzen. Er beendet den Gedanken mit dem Satz:
„
Zurück zum Beginn der Tschechoslowakei. 1919 besteht die neugebackene Nation der Tschechen und Slowaken zu 48 % aus Tschechen, zu 28 % aus Deutschen, zu 14 % aus Slowaken, zu 7 % aus Ungarn und zu 3 % aus Ruthenen. In den ersten Jahren nach der Gründung entwickelt sich das neue Land zu einem Zentralstaat in der Hand der Tschechen. Staatsapparat, Polizei und Militär sind überwiegend tschechisch und spiegeln den Proporz der Völker in keiner Weise wieder. Wirtschaft, Schulen und Verwaltung in den bis dahin rein und überwiegend deutsch bewohnten Städten und Gemeinden werden gegen den Willen der ansässigen Bevölkerung und auch gegen die Garantien der Verfassung mit Nachdruck tschechisiert. 354 deutsche Volksschulen und 47 Mittelschulen müssen schließen74, etwa 40.000 deutsche Staatsbeamte werden aus dem Dienst entfernt. Die deutschen Städte werden umgetauft und erhalten tschechische Namen.
Aus Eger wird Cheb, aus Aussig Usti und so weiter. Auch die deutschen Straßennamen werden ausgetauscht. Alle deutschen Landerwerbungen seit 162075 werden in einer sogenannten Landreform enteignet und an den
tschechischen Bevölkerungsanteil „zurückerstattet“76. Zur Reform gehört ebenfalls die Aufteilung der großen Güter in Böhmen, Mähren und der Slowakei, wobei das umverteilte Land bis dahin zu 43 % in deutschen Händen lag, zu 42
% im Besitz von Ungarn, und nur 15 % der Enteignung betreffen Tschechen.
Die Bestimmungen der Verträge von Saint-Germain und Trianon, die Tschechoslowakei zu einem Bundesstaat mit gleichen Rechten für alle Völker zu entwik-keln, werden niemals umgesetzt. Auch der Geist der tschechoslowakischen Verfassung hat hier keinen Einfluß mehr.
Selbst die Slowaken, deren Einvernehmen erst zur Gründung dieses Staats ge-führt hatte, bleiben bei der Machtverteilung lange außen vor. Die Spannungen 73 ODSUN-Dokumente Seiten 539 ff
74 Bernhardt, Seite 31
75 1620, im 30jährigen Krieg besiegt die katholische Liga in der Schlacht am Weißen Berge die prote-stantischen Böhmen.
76 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 50
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zwischen Tschechen auf der einen und Slowaken und Ruthenen auf der anderen Seite führen 1939 deshalb auch zur Auflösung der Tschechoslowakei. Doch davon später.