Auch die Tschechen sind nicht glücklich mit den für ihren Staat zu vielen und zu großen Minderheiten. Besonders die „Minorität“ der Deutsch-Böhmen bereitet ihnen Schwierigkeiten. Schon 1920 hört und liest man Klagen über die Unwilligkeit der Deutschen, in den Kreisen und Gemeinden, in denen sie noch immer eine Mehrheit bilden, das Tschechisch in Ämtern und Schulen zu benutzen und tschechische Bürgermeister und Beamte zu akzeptieren. Man wirft den Deutsch-Böhmen vor, ihrem neuen Staate gegenüber illoyal zu sein und den Anschluß an Österreich oder Deutschland zu betreiben.
In den 20er und 30er Jahren nimmt der Verdruß der Sudetendeutschen an der Vorherrschaft und an der Selbstbedienung der Tschechen im neuen Staate stetig zu. Die deutsche Volksgruppe artikuliert sich zunächst zersplittert in mehreren Parteien. Sie bleibt damit politisch lange ohne jeden Einfluß. Erst 1933 gelingt es einem 35jährigen Sudetendeutschen namens Henlein, die deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei in einer Bewegung zu sammeln, die er die „Sudetendeutsche Heimatfront“ nennt. Henlein erkennt die Tschechoslowakei als den Staat der Sudetendeutschen an, doch er versucht, die Kultur, das Heimatrecht, die wirtschaftliche Stellung und die Arbeitsplätze der deutschen Bevölkerung in ihrem neuen Staate zu erhalten und, wo nötig, durchzusetzen77. Aus der Sudetendeutschen Heimatfront bildet sich alsbald die „Sudetendeutsche Partei“ (SdP), die schon bei den Mai-Wahlen 1935 stimmenstärkste Partei im Lande wird. Den Aufschwung der SdP zaubert sich die Prager Regierung gegen ihren Willen selbst. Sie löst zwei der deutschen Parteien auf und treibt der neuen deren Wähler zu78. Im Juli 1936 wird die SdP mit 44 Sitzen auch noch zur stärksten Fraktion in der Prager Nationalversammlung. Ihr folgt die vorwiegend slowakische Agrarpartei, die fortan mit Milan Hodscha den Ministerpräsidenten stellt. Beide, die Sudetendeutschen und die Slowaken drängen auf die in Saint-Germain versprochene innere Autonomie der Nationen im Vielvölkerstaate Tschechoslowakei.
Im Februar 1937 versucht Henlein, ein „Volksschutzgesetz“ in die Prager Nationalversammlung einzubringen. Der Gesetzentwurf fordert die Umgestaltung der Verfassung und die Autonomie der vielen Völker dieses Staates. Der Vorschlag birgt Sprengkraft für die Tschechoslowakei, denn neben den Sudetendeutschen gibt es im Lande auch die Ungarn, Ruthenen und Slowaken, denen die Zentrali-sierungspolitik und die Tschechisierung in ihrem Land ein Dorn im Auge ist. Im September 1937 findet ein ergebnisloses Gespräch Henleins mit Ministerpräsident Hodscha zur Frage der deutschen Selbstverwaltung statt. Weitere Gespräche 77 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 59
78 Die 1935 von der tschechoslowakischen Regierung aufgelösten Parteien sind die Deutschnationale Partei und die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei
139
zu dieser Frage lehnt Hodscha danach ab. Im Oktober kommt es im Wahlkampf zu Gemeindewahlen zur offenen Konfrontation zwischen Tschechen und Sudetendeutschen. Henlein, der zu der Zeit noch immer um die Zukunft der Deutschen innerhalb der Tschechoslowakei kämpft, schickt Staatspräsident Beneš nun ein förmliches Ultimatum mit der Aufforderung, die innere Autonomie der Sudetenlande zu erklären. Beneš würdigt Henleins Ultimatum nicht einmal einer Antwort.
Henleins Brief an Beneš gelangt sofort und ohne Henleins Wissen in die Hände der Presse im deutschen Reichsgebiet und wird dort veröffentlicht, ehe er Beneš vorgelegen hat. So entsteht der falsche Eindruck, Henlein arbeite mit dem Deutschen Reich zusammen. Der Führer der Sudetendeutschen kann sich danach von diesem Verdacht auch nicht mehr befreien. Da er bei Hodscha und Beneš kein Gehör gefunden hat und offensichtlich auch nicht finden wird, und da er nun ohnehin als Kollaborateur der Deutschen gilt, richtet Henlein am 19. November 1937 ein schriftliches Ersuchen an Hitler, die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei zu unterstützen79. Das ist sein erster Hilferuf nach außen, der letzte Schritt vor der offiziellen Bitte, die Sudetengebiete dem Deutschen Reiche anzugliedern.
Die deutsche Einmischung in die tschechische Sudetenkrise