Am 15. September stehen sich Chamberlain und Hitler erstmals persönlich gegenüber. Das Gespräch der beiden findet auf Hitlers Vorschlag hin unter nur vier Augen statt. Außenminister von Ribbentrop und Wilson, der außenpolitische Berater Chamberlains, werden nicht hinzugezogen. Allein ein Dolmetscher ist zugegen. So wird dies erste Gespräch der beiden ein Ringen allein zwischen Chamberlain und Hitler. Der beklagt die Unfähigkeit des Völkerbunds, die Minderheitenprobleme der Deutschen im Ausland zu beheben, und er verlangt das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für die Sudetendeutschen. Hitler fordert in dem Gespräch nicht weniger und nicht mehr als die von einer deutschen Mehrheit bewohnten Grenzgebiete für das Reich und für umstrittene Bezirke eine Volksabstimmung. Die Abstimmung soll nach seiner Meinung klären, ob weitere Gebiete von der Tschechoslowakei an Deutschland abzutreten sind. Der deutsche Kanzler kündigt an, er werde die Probleme der Sudetendeutschen in Bälde „so oder so aus eigener Initiative lösen“. Chamberlain versteht die Drohung dieser Worte. „So oder so“ heißt in Hitlers Art, sich auszudrücken: Einlenken der Gegenseite oder Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei. Chamberlain sagt Hitler zu, die Frage des Selbstbestimmungsrechts für die Sudetendeutschen sofort mit seinem Kabinett in London zu beraten und dann baldmöglichst zu einem zweiten Gespräch nach Deutschland zu kommen. Er ringt Hitler dafür das Versprechen ab, bis dahin von einer Intervention in der Tschechoslowakei abzu-sehen109.
Inzwischen teilt der französische Außenminister Bonnet der englischen Regierung mit, daß die französische sich allen Vorschlägen Chamberlains an Hitler anschließen werde110. Am 16. September gibt Chamberlain, kaum zurück in London, seinem Kabinett einen Bericht der Reise. Es läßt dabei keinen Zweifel offen, daß Deutschland auf dem Sprung ist, in der Tschechoslowakei mit Truppen einzugreifen, wenn die Probleme der Sudetendeutschen nicht schnellstmöglich auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Lösung finden. Auch Lord Runciman, aus Prag zurückberufen, berichtet vor dem Kabinett in gleicher Sitzung. Er hält die tschechische Regierung für die jetzt entstandene und völlig festgefahrene Lage in der Tschechoslowakei für voll verantwortlich.
109 Henderson, Seite 151
110 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 265
152
Runciman schließt seinen Vortrag mit der Empfehlung, die Sudetengebiete ohne große Diskussion in kürzester Zeit an Deutschland anzuschließen.
Präsident Beneš, davon unterrichtet, versucht nun in aller Eile, die französische Regierung für eine minimale Lösung zu gewinnen. Am 17. September schickt er Ministerpräsident Daladier ein Schreiben mit angefügter Karte, in dem er die Abtretung von drei sudetischen Gebieten mit etwa 800.000 Deutschen vorschlägt.
2,3 Millionen Sudetendeutsche wären danach bei der Tschechoslowakei verblieben. Der Beneš-Brief enthält den handgeschriebenen Nachsatz:
Mit diesem allerdings zu späten Zugeständnis und dem handgeschriebenen Zusatz glauben die französische und die englische Regierung, daß Präsident Beneš von nun an Gebietsabtretungen nicht mehr prinzipiell ablehnt, und sie wissen, daß er die Verantwortung dafür nicht selber tragen, sondern den Franzosen überlassen möchte.
Aufschlussreich ist das Gespräch, das Beneš mit dem französischen Botschafter Lacroix führt, als er ihm den besagten Brief an Präsident Daladier übergibt. Be-neš unterrichtet den Franzosen nicht nur vom Inhalt seines Briefes, zum Beispiel seinem Vorschlag, gewisse Landesteile und „8-900.000 Deutsche abzutreten“, sondern er offenbart ihm auch, daß seine Gedanken weitergehen, als es der Brief an Daladier erkennen läßt. Er ergänzt zu dem im Brief gemachten Vorschlag: