Zusätzlich zu diesem Brief, den Lacroix zu überbringen hat, schickt Beneš den tschechischen Minister Nečas nach London und Paris, um dort einflussreiche Politiker von seinem Angebot zu überzeugen. Nečas' Auftrag ist es, den Briten und Franzosen als Bedingung für Gebietsabtretungen zu übermitteln, daß das Deutsche Reich „wenigstens 1,5 bis 2 Millionen deutsche Bevölkerung zu übernehmen“ habe.113 Auch die Weisung an Minister Nečas enthält den Nachsatz „Nicht sagen, daß das von mir kommt“. Hier taucht die Idee, die der späteren Vertreibung der Sudetendeutschen zugrunde liegt, ein erstes Mal bei Beneš auf.
Am 18. September treffen sich Daladier und sein Außenminister Bonnet in London mit Chamberlain und Halifax. Briten und Franzosen suchen nun gemeinsam nach einer Lösung, die weder Frankreichs Vertragsverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei verletzt noch zu einem Krieg wegen des bisher vorenthal-tenen Selbstbestimmungsrechts der Sudetendeutschen führt. Als Ergebnis dieser 111 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 267
112 Telegramm von Lacroix an Außenminister Bonnet vom 17. September l938, Siehe ODSUN Dokumente, Seiten 766f
113 ODSUN Dokumente, Seite 762
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Konferenz schicken beide Regierungen, die britische und die französische, am 19. September getrennt die gleichlautende Aufforderung nach Prag, selbst und auf eigenen Entschluß mit oder ohne Volksabstimmung die Gebiete mit mehr als 50% sudetendeutscher Bevölkerung an das Deutsche Reich zu übergeben und die neue Grenzziehung einer internationalen Kommission zu übertragen. Als Anreiz wird den Tschechen die Bereitschaft Englands mitgeteilt, die neuen Grenzen ihres Staates nach Abtretung der Sudetenlande mit zu garantieren. Das ist ein Versprechen, dem sich England später mit Geschick entzieht. Dies halbe Garantie-Versprechen vom 19. September 1938 wird an späterer Stelle dieses Buches, an der es um die Garantien geht, noch einmal aufgegriffen. Die Schreiben der Briten und Franzosen enden mit der Bitte um eine schnelle Antwort, spätestens am 21. September. Das ist in 48 Stunden. Doch Chamberlain ergänzt den Brief an Beneš durch eine Weisung an den englischen Botschafter Newton in Prag, er möge Präsident Beneš darauf hinweisen, daß er seine Antwort „unbedingt heute abend, spätestens aber morgen geben muß“114. Das ist sogar ein Ultimatum ohne Bedenkzeit.
Chamberlains und Daladiers Entscheidung, die Erhaltung des Friedens in Europa auf diese Weise zu erzwingen, stößt in England und Frankreich auf ein geteiltes Echo. Neben dem Zuspruch alle derer, die Europa einen neuen Krieg erspa-ren wollen, gibt es in beiden Ländern „Falken“, die ungeachtet des desolaten inneren Zustandes des tschechoslowakischen Vielvölkerstaats eher Krieg mit Deutschland führen wollen, als daß sie eine Anschlußlösung zugunsten der Sudetendeutschen akzeptieren. In Frankreich bilden die Minister Mandel, Reynaud, Champetier de Ribes, Campinchi, Zay und de Chappedelaine die „Kriegspartei“.
Mandel, Reynaud und Champetier drohen für den Fall, daß Daladier dem Anschluß der Sudetengebiete an Deutschland zustimmt, mit Austritt aus dem Kabi-nett115. Kolonialminister Mandel versteigt sich sogar dazu, Beneš, den Präsidenten der Tschechoslowakei, am 20. September in Prag anzurufen und ihn im Gegensatz zum Brief seines Ministerpräsidenten unverhohlen zum Kriege, ja selbst zur Kriegseröffnung aufzufordern:
„...
In England sind es vor allem Churchill, Vansittart, der außenpolitische Berater der Regierung, und Eden, der Vorgänger des amtierenden Außenministers, die lieber Krieg als „Anschluß“ wollen. In gleicher Weise gibt es in Deutschland Fal-114 Documents Brit. Foreign Policy, Third Series, Volume II, Document 938
115 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 275
116 Benoist-Méchin, Band 6, Seite 276
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ken und Tauben. Der prominenteste Vertreter der Friedenspartei im Reich ist Luftfahrtminister Göring, zugleich Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe.
Sein Gegenpol als Falke im Kabinett ist Reichsaußenminister von Ribbentrop.