Die Vielvölkerkrise der Tschechoslowakei berührt auch andere Staaten in Europa. Ungarn, einst fast ein Jahrtausend Herrscher über die Slowakei, reflektiert auf die Gebiete in der Südslowakei, in denen noch immer fast 750.000 Ungarn leben. Am 22. September fordert die ungarische Regierung von Prag, die ungarische Minderheit in Zukunft in der gleichen Weise zu behandeln, wie die deutsche. Polen fordert das Industriegebiet von Teschen, wo es eine kleine Minderheit an Polen gibt. Polen, das sich eng mit Ungarn verbunden fühlt, setzt sich bei Hitler außerdem für einen Anschluß der Karpato-Ukraine an Ungarn ein, wodurch eine gemeinsame polnisch-ungarische Grenze entstehen würde.
Hitler, das sei hier schon einmal erwähnt, bringt bei dieser Gelegenheit bei den Polen erstmals den Wunsch nach einer Gegenleistung an. Es ist der Wunsch nach einem Anschluß der Stadt Danzig und nach einer exterritorialen Auto-bahnverbindung durch Pomerellen in das vom Reich abgeschnittene Ostpreußen. Am 21. September meldet die polnische Regierung ihre Gebietsforderungen in drei Noten in Prag, Paris und London an. Der nächste Staat mit Ambitionen ist das Königreich Italien. Es ist zwar nicht Nachbar aber Interessent. Es will eine Rolle als Schutzmacht Ungarns und als Vormacht im Raum der Donauländer spielen. „Duce“ Mussolini verlangt eine Volksabstimmung für alle Minderheiten in der Tschechoslowakei, doch er mahnt zum Frieden und fordert – ganz im Sinne Hitlers – einen Krieg, wenn er denn gar nicht zu vermeiden sei, auf den Konfliktherd zu begrenzen. Mussolini sagt zu der Zeit mehrmals in öffentlichen Reden, daß Italien in einem Krieg um die Tschechoslowakei so lange neutral bleiben werde, wie sich auch Großbritannien aus ihm heraushalte.
Während die englische und die französische Regierung nach einer Lösung ohne Blutvergießen suchen, „entwickelt sich die innere Situation der Tschechoslowakei von schlecht zu schlimm“117. Die Propaganda im Deutschen Reich malt schwarz und heizt die Sudetendeutschen weiter an. Wenn man die Unwahrheiten der deutschen Medien abzieht, bleiben immer noch ein paar standrechtliche Erschießungen und einige hundert Verhaftungen von Angehörigen der deutschen Bevölkerungsgruppe. In Deutschland nimmt man im Gegenzug 150 hier ansässige Tschechen als Geiseln in Haft, um weitere Erschießungen in der Tschechoslowakei zu unterbinden. Sudetenführer Henlein erklärt öffentlich, den Sudetendeutschen bleibe keine andere Wahl, als das eigene Schicksal selber in die Hand zu nehmen und sich zu bewaffnen. Er ruft die wehrfähigen Deutschen in der Tschechoslowakei auf, ein „Sudetendeutsches Freikorps“ im Reichsgebiet zu bilden und die Heimat selber zu befreien. Binnen zweier Tage sammeln sich 40.000
junge Männer auf der deutschen Seite. Sie beginnen, von da aus mit Scharmüt117 Formulierung von Henderson, Seite 151
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zeln gegen die an der Grenze stationierten tschechischen Truppen, bis Hitler dieses unterbindet. Aufgeschreckt von den Unruhen in der Tschechoslowakei und um sich vor einem Krieg in Sicherheit zu bringen, verlassen im September 1938
etwa 240.000 Sudetendeutsche ihre Heimat und fliehen in das Deutsche Reich118.
Roosevelts Rettungsversuch
Kurz vor dem Höhepunkt der Krise, am 19. September, versucht noch die große Macht im Hintergrund, die Tschechoslowakei zu retten. Für Präsident Roosevelt gehört der Vielvölkerstaat der Tschechen und Slowaken zu der von den USA mit-gebauten Nachkriegsordnung in Europa, die der Diktator Hitler nicht ohne die Billigung der USA verändern darf. Hier geht es Roosevelt auch um den Führungsanspruch, den er in Europa für die USA erhebt. Der Selbstbestim-mungsanspruch der Sudetendeutschen ist gegen diesen Führungsanspruch von geringerer Bedeutung. Der Präsident schlägt dem englischen Botschafter in Washington Sir Lindsay eine Seeblockade gegen Deutschland vor. Amerikanische und britische Seestreitkräfte sollen – so der Vorschlag – Deutschland mit einer Kon-tinentalsperre von der Nordsee über den Atlantik und das Mittelmeer bis Suez von seinen Überseeimporten abschneiden119 und es so zwingen, den Status quo der Sudetendeutschen zu akzeptieren. Roosevelt nimmt dazu in Kauf, das Recht der USA zu brechen. Seeblockaden sind nach dem Völkerrecht Kriegshandlun-gen, und die USA sind nach eigenem Landesrecht neutral. Der Präsident ist bereit, die USA für den Erhalt der Tschechoslowakei in einen Krieg zu führen.
Das Einlenken der Tschechen